Am 28. April 2024 veranstalteten die Kirchengemeinde und der Bürgerverein ein Gedenkstunde anlässlich des 79. Jahrestages des Kriegsendes und der Ermordung der siebenköpfigen Pfarrerfamilie Wagner durch die abziehende rumänische SS-Einheit.
Ein Wort des Willkommens und über den Davidstern über der Pfarrhaustür sprach Pfarrerin Elisabeth Kruse:
Herzlich willkommen hier vor dem Pfarrhaus.
Wir erinnern an Menschen, die hier gelebt haben und die in diesem Haus ermordet wurden:
Superintendent Theodor Wagner mit seiner Frau Gertrud.
Ihr Sohn Theodor, Pfarrer aus Zerpenschleuse, mit seiner Frau Adelheid und ihren Kindern Dieter, Reiner und Eberhard.
Sie waren hier zu Hause.
Sie haben hier Schutz gesucht in unsicherer Zeit.
Wie so viele andere wollten sie sich in Sicherheit bringen. Aber am Ende waren sie immer noch hier. Und so sind sie wohl an diesem Abend vor 79 Jahren ins Haus zurückgekehrt.
Vielleicht sind sie auch auf ihrem letzten Weg ins Haus noch einmal durch die „Sternen-Tür“ gegangen?
So hat mein kleiner Sohn die vordere Haustür genannt. Er ist dreieinhalb, ungefähr so wie der älteste Enkel Dieter damals. Sternen-Tür – ob die Kinder damals auch so einen Namen für die Tür im Hause der Großeltern gefunden hatten?
Ehrlich gesagt: Mich hat dieser Stern überrascht:
Ein Davids-Stern im evangelischen Pfarrhaus aus dem 19. Jahrhundert?
Ich habe einen gefragt, der sich besser auskennt und er hat mir erzählt:
Dieser Stern war von alters her ein Zeichen für den Messias.
Hebräisch „maschiach“, griechisch „christos“, das ist der Gesalbte Gottes.
Das ist die Hoffnung auf einen, der im Namen Gottes kommt und Frieden bringt: Schalom – Wohlergehen, Liebe, Glück, so Vieles, wonach wir uns bis heute sehnen.
Der Stern ist ein altes Zeichen dafür, dass Gott mit den Menschen verbunden bleibt.
Auch in unserer Zeit. Auch in allem Unfrieden
Über Jahrhunderte hatten Juden und Christen dieses Zeichen gemeinsam. An Synagogen und in Kirchen ist es zu finden.
Als zum Ende des 19. Jahrhunderts mit einem zunehmenden Antisemitismus die zionistische Idee wuchs, wurde der Stern zu ihrem Zeichen – und später ein Teil der Flagge von Israel.
Aber schon im Mittelalter war der „Magen David“, der „Schild Davids“, wie er auch genannt wurde, in der jüdischen Flagge in Prag zu sehen.
Ein Schutzzeichen, in seiner besonderen geometrischen Form manchmal sogar verbunden mit magischen Vorstellungen.
Die Nazis pervertierten dieses Hoffnungszeichen, als jüdische Menschen gezwungen wurden, den gelben Stern zu tragen.
Ob der Stern an diesem Haus auch einen Vorwand für den Überfall geboten hat – von Betrunkenen, für die eh alles zu spät war? Die dem Hass und der Gewalt mehr geglaubt haben als dem Leben?
Der Stern konnte die Bewohner dieses Hauses nicht schützen.
Und auch ihre Mörder konnte er nicht schützen, am Leben dieser ganzen Familie schuldig zu werden. Ob es sie später noch verfolgt hat? Oder ob ihr eigenes Leben schon bald danach auch zu Ende war?
So Vieles, was wir nicht wissen – und doch gedenken wir.
Weil wir das Leben lieben und weil es uns heilig ist.
Und weil wir immer noch trauern über so viel Leid und Tod, auch hier in diesem Ort - und wo der Krieg schon fast zu Ende war, noch in diesem Haus.
Und noch immer steht der Stern über dieser Tür.
Für mich ein Zeichen der Hoffnung und der Verbundenheit, trotz allem.
Mit der Familie Wagner, die hier gelebt hat und Schutz gesucht hat.
Und mit allen, die bis heute auf Frieden hoffen und sich für das Leben einsetzen.
Nach einer Einführung durch Pfarrerin Elisabeth Kruse sang Gert Schüler das Friedenslied "Es ist an der Zeit" von Hannes Wader (hier zu hören: https://lyricstranslate.com/de/es-ist-der-zeit-lyrics.html). Danach verlas Corinna Harfouch einen Auszug aus Jesaja und aus Brechts Gedicht „Gleichnis des Buddha vom brennenden Haus“.
Gert Schüler, Corinna Harfouch, Elisabeth Kruse und Rainer E. Klemke (v.l.n.r.)
Für den Bürgerverein sagte Rainer E. Klemke folgendes:
Am 30. April ging unser Großvater Paul Grabowski, der in den Zwanziger Jahren in Groß Schönebeck die Ortsgruppe der KPD gegründet hat, den sowjetischen Gruppen mit einer weißen Fahne entgegen, um zu verhindern, dass das Dorf Schauplatz weiterer Kämpfe wurde. Gegen 16 Uhr erreichten die ersten Panzer der der 1. Weißrussischen Front unter Marschall Georgi Schukow auf der alten Joachimsthaler Straße das Dorf. Groß Schönebeck lag infolge der Flucht der Einwohner:innen wie ausgestorben da. Da wusste Paul Grabowski noch nichts von dem schrecklichen Verbrechen, dass die abziehenden SS hier im Pfarrhaus an der Familie Wagner begangen hatte. Da es Spekulationen im Ort gab, es seien wohl doch die Sowjets gewesen, wurden Anfang der 60er Jahre die Gräber der Familie Wagner eingeebnet, um wegen der Erinnerung an das Verbrechen die Freundschaft mit dem Brudervolk nicht zu gefährden.
Die beiden Pfarrerfamilien aus Zerpenschleuse und Groß Schönebeck waren aus welchem Grund auch immer nicht wie viele andere Groß Schönebecker in den Wald geflohen oder hatten sich, wie ursprünglich geplant mit anderen Familien auf den Treck nach Westen begeben. Diesen letzten Kriegsopfern gedenken wir heute erneut und sollten uns des Geschenkes bewusst sein, hier seit 79 Jahren den Frieden genießen zu dürfen, der längsten Friedensperiode in Europa.
Seit Kirchengemeinde und Bürgerverein vor 11 Jahren hier den Gedenkstein und das Ehrengrab auf dem Friedhof für die Familie Wagner einweihten, erinnern wir jedes Jahr an dieses Verbrechen und das Kriegsende in Groß Schönebeck. Das Gleichgewicht des Schreckens im Kalten Krieg bewahrte zwar den Frieden, der war aber nicht mit dem zweiten großen Wert gekoppelt, der Freiheit. Die sollte erst mit der Bürgerbewegung in den RGW-Staaten und auch hier in der DDR erkämpft werden und die Erweiterung der Europäische Union um Staaten aus Mittel- und Osteuropa sicherten fortan beides: Frieden und Freiheit im EU-Raum.
Anderswo in der Welt entwickelte es sich in eine andere Richtung. Insgesamt 69 kriegerische Konflikte zwischen und in anderen Staaten zählt das schwedische Friedensforschungsinstitut SIPRI, 108 Millionen Menschen auf der Flucht verzeichnet die UN-Flüchtlingsorganisation, davon 35 Millionen Flüchtlinge im Ausland. Und der Krieg rückt auch zu uns näher heran. Zunächst in dem ehemaligen Vielvölkerstaat Jugoslawien und seinen Nachfolgerepubliken, in Tschetschenien, Georgien, in Syrien, in Afghanistan und nur 600 km von hier in der Ukraine. Kriegsflüchtlinge aus Tschetschenien und Syrien fanden bei uns ab 2015 eine neue Heimat, der Überfall Russlands auf die Ukraine brachte weitere Geflüchtete auch in unser Dorf. Die russischen Bomben und Raketen auf Grosny, Aleppo und die Ukraine töteten Greise, Kinder und Frauen. Schulen und Universitäten, Krankenhäuser, Energie- und Wärmeversorger, Tretminen in den Weizenfeldern waren und sind die Ziele der Putintruppen, vor denen Ukrainer:innen in unser Dorf flüchteten, nachdem sie Hab und Gut verloren haben..
Der Terror des Mullahregimes im Iran brachte eine weitere Familie hzu uns, die aus ihrer Heimat fliehen musste, um den Häschern zu entgehen. Wir sind sehr froh und stolz, dass sich viele Groß Schönebecker gefunden haben, die den Neubürger:innen Wohnung gegeben und vielfältige Eingliederungshilfe geleistet haben, weshalb unser Dorf auch mit dem Integrationspreis des Landes Brandenburg ausgezeichnet wurde. Acht Kinder wurden bereits von Neubürger:innen hier geboren und trugen mit den Geschwistern dazu bei, dass Kita und Schule im Dorf gesichert und ausgebaut werden konnten. Viele von ihnen haben hier im Dorf oder im Landkreis Arbeit oder eine Ausbildung gefunden.
Der gemeinsame Markt und das Rechtssystem in der EU sind die Quelle des Wohlstandes für uns und der Garant unseres Friedens und unserer Freiheit. Obwohl die Menschen, die sich nach Europa geflüchtet haben, nur 0,6% der Einwohner:innen der EU ausmachen, wird die Zuwanderung zunehmend zur Gefahr dargestellt, gegen die wir uns mit Zäunen, Mauern und Grenztruppen schützen sollen. Dagegen macht die Zuwanderungsquote im Libanon 12,5%, in Jordanien 6,3 %, in der Türkei 4.4.% und in fast allen anderen Anliegerländern mehr aus als im reichen Europa. Selbst bei uns in Deutschland beträgt die Quote nur 1,5%, das sind etwa so viele wie Menschen in Hamburg leben.
Es werden wieder erneut Ängste geschürt bei uns, gerade auch jetzt vor den anstehenden Wahlen. Unsere freie Presse wird gerade von denen, die den Angriffskrieg des diktatorischen Putinregimes gutheißen und sich von ihm bezahlen lassen, als „Lügenpresse“ gescholten. Die, die lautstakt auf Demonstrationen und in den Medien hetzen, beklagen sich, dass sie hier ihre Meinung nicht sagen dürfen. Unsere Justiz wird von Befürwortern und Geldempfängern aus China als staatsgelenkt bezeichnet, während wir die Opfer staatlicher Repression aus Russland und China bei uns aufnehmen. Dieselben Kritiker unseres Staatswesens wollen raus aus der EU und dem Euro, die uns Frieden, Freiheit und Wohlstand gesichert haben.
Alle diktatorischen Regime greifen zuerst die Pressefreiheit an, dann die Justiz, verstaatlichen Medien und entlassen Richter und Staatsanwälte, wie wir es u.a. auch in Polen, Ungarn und der Türkei erlebt haben, um danach korrupte Machtkartelle zu installieren. Und sie richten sich gegen mühsam erkämpfte Frauenrechte, wie einen straffreien Schwangerschaftsabbruch sowie die wirtschaftliche und politische Gleichberechtigung von Frauen.
Und was hat das alles mit dem Gedenken an die Familie Wagner und das Ende des Zweiten Weltkrieges in Groß Schönebeck zu tun?
Diese Tage vor 79 Jahren bezeichnen das Ende einer mörderischen faschistischen Herrschaft, die vom Hass auf Minderheiten, Zwangsarbeit und dem Überfall auf andere Völker, die man zu „Untermenschen“ erklärte und ausrotten wollte, lebte. Dieses Regime zeichnete sich durch nicht das Streben nach multilateraler Verständigung und Zusammenarbeit der Völker, sondern durch Abgrenzung und nationale Überheblichkeit aus.
Von daher gilt es, das Wort von „Nie wieder ist jetzt“ aufzunehmen und denen entgegenzutreten, die gegen die europäischen Werte und die Menschenrechte anrennen, die sich als Bürgerliche verkleiden, aber mit Verfassungsfeinden zusammenarbeiten, die unsere Rechtsordnung aushöhlen und bei russischen und chinesischen Despoten ein und ausgehen und sich von denen, wie der SPIEGEL berichtet, die Agenda schreiben lassen.
Viele denken, so schlimm wird es ja wohl nicht kommen, lass’ die doch mal zeigen, was sie anders und besser machen können und wenn die mal über die Stränge schlagen: mich wird es ja schon nicht treffen. Aber seit 1990 wurden nach Recherchen des Tagesspiegel 302 Menschen in Deutschland durch rechtsradikale Täter ermordet – weitaus mehr als durch alle islamistischen Anschläge.
Dazu hat Pastor Martin Niemöller, Häftling im KZ Sachsenhausen, einst einige Worte gesagt, die sinngemäß auch heute nichts von ihrer Bedeutung verloren haben:
Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist.
Als sie die Gewerkschaftler holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschaftler.
Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Jude.
Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.
Im Anschluss sprach Ortsvorsteher Andreas Zeidler und leitete über zum Besuch des Ehrengrabes der Familie Wagner auf dem Friedhof. Nach der Niederlegung von Blumen schloss die Veranstaltung mit Gebet und Segen durch Pfarrerin Elisabeth Kruse.