Legenden und Wahrheiten aus Böhmerheide VI
Das Böhmerland heute
Wer heute nach Böhmerheide will, sucht nicht mehr die alten Böhmer, sondern
vielmehr ein Plätzchen auf der Liegewiese am Weißen See oder fährt zu seinem
Wochenendgrundstück. Mitte der 20iger Jahre suchten immer mehr Berliner
Familien auf dem Lande eine kleine Fläche, um sich dort eine Laube zu
errichten und dem Großstadtlärm zu entfliehen. Um diesem Bedarf gerecht zu
werden, ließ die Gemeinde einen Bebauungsplan durch den Architekten Zeller
1930 für die Flächen südlich des Weißen Sees erarbeiten. Danach wurden die
Waldflächen zwischen der Chaussee und dem See parzelliert und an Interessen-
ten verkauft.
Nach den damaligen Planungen war sogar vorgesehen, die gesamte Siedlung an
eine zentrale Entwässerungsanlage anzuschließen. Der Verlauf der Entwässe-
rungsleitungen, der Bau der Straßen und die Errichtung eines Strandbades war
schon zu Papier gebracht, als der Krieg auch diesem Vorhaben ein Ende
bereitete. Aber schon Anfang der 30iger Jahre wurde Böhmerheide immer mehr
Anziehungspunkt von Freizeitsuchenden. Mit der Heidekrautbahn von Wil-
helmsruh bis Groß Schönebeck und dann meist mit dem Fahrrad waren sie in
insgesamt ca. 1 1/2 Stunden in der Böhmerheide, die damals wegen der Ruhe
und Abgeschiedenheit noch begehrter war als heute.
Viele der heutigen Alteigentümer erinnern sich noch gern an die Zeit, als sie in
den Ferien hier in Böhmerheide herrliche Tage verbringen konnten. Noch tiefer
verband sich Ihre Liebe zu Böhmerheide während der schweren Kriegsjahre.
Diejenigen,die sich in Böhmerheide schon eine Unterkunft geschaffen hatten,
begannen mit dem Beginn der Luftangriffe auf Berlin für sie wichtige Gegen-
stände hier auszulagern. Manch unscheinbare Laube beherbergte wertvolles
Inventar. Nur wenigen war es vergönnt, ihre ausgelagerten Sachen nach dem
Ende des Krieges wieder in Besitz zunehmen. Was nicht gestohlen worden war,
mußte teilweise in der Nachkriegszeit gegen Lebensmittel eingetauscht werden.
Aber auch die politischen Veränderungen und der besondere Status von Berlin
verhinderten immer mehr die Rückkehr zu einem normalen Leben. Allen, die
in den Westsektoren lebten, wurde das freie Reisen in das Umland von Berlin
zunehmend erschwert. Die Methoden ähnelten denen, wie sie ehemalige DDR-
Reisende, die nach West Berlin fahren wollten, noch bis 1990 über sich ergehen
lassen mußten. Um die damaligen Verhältnisse vielleicht besser verstehen zu
können, fügen wir an dieser Stelle Auszüge aus einem Briefbei, der am 19.Juni
1952 geschrieben wurde:
" In B.H. (Böhmerheide) hat sich jetzt das Drama vollendet. Am Pfingst-Sonn-
abend haben wir uns dem großen Treck der Westberliner Siedler anschließen
müssen. Wir haben alles zurücklassen müssen und konnten noch froh sein, daß
wir unbehelligt wieder in Wilhelmsruh ankamen. Der Iwan wird nervös und
auch verrückt und dagegen ist zunächst wenig zu machen. Schärfere Abwehr-
maßnahmen könnten den dritten Weltkrieg auslösen und davor graust uns allen.
Offen gesagt, der Abschied von B.H. ist uns etwas an die Nieren gegangen,
zumal alles blüht und gedeiht, wie wir es seit Jahren nicht erlebten. Deine.sowie
auch meine Obstbäume hängen voller Früchte.( ... ) Wer da in diesem Jahr erntet,
ist noch nicht genau raus. Die ostzonalen Behörden gehen erbarmungslos vor.
Einem Westberliner Siedler am We!ßen See sind 12 Kaninchen und ca. 40
Hühner und Kücken umgekommen, weil sich niemand darum kümmern konnte,
denn er mußte alles zurücklassen.
Die Heidekrautbahn und auch die Züge nach Bernau (. .. ) sind fast leer; weil
kein Westberliner mehr in die Zone reisen darf. Ich habe (. . .),der ja im Ostsektor
Berlins wohnt, die Schlüssel übergeben und er wird am kommenden Sonnabend
mit seiner Familie nach B.H. fahren. Er wird dies laufend tun, so daß man
immerhin von dem, was dort passiert, unterrichtet ist. Mit den getroffenen
Maßnahmen hat sich das östliche System noch verhaßter gemacht als vorher
und unter der Ostzonenbevölkerung gährt es. Wie lange dieser Zustand anhal-
ten wird, vermag zunächst niemand zu sagen.
Nun, dieses Drama währte über 40 Jahre, bis die Mauer fiel und die Alteigen-
tümer wieder ohne Angst und Gefahr nach ihren Lauben und Gärten sehen
konnten. Was sie jetzt vorfanden, war für viele erschütternd. Ihre alten Grund-
stücke waren teilweise überhaupt nicht mehr auffindbar. Ihre Kinder fanden sich
ebenfalls nicht zurecht, kannten sie doch die Böhmerheide nur von den Erzäh-
lungen ihrer Eltern. Ein Problem, das nur behutsam gelöst werden kann und
nicht nur Böhmerheide betrifft.
Nach der Zwangsvertreibung der Berliner und dem Bau der Mauer begann
langsam, aber stetig eine Neuvergabe der Grundstücke. Die sogenannten West-
grundstücke wurden unter die staatliche Verwaltung der Gemeinde genommen
und dort, wo wohnbare Gebäude vorhanden waren, wurden diese an Umsiedler
oder andere Wohnungssuchende vergeben. Zu diesem Zeitpunkt für die Betrof-
fenen sicher eine Hilfe. Schon bald fanden sich neue Interessenten für die
restlichen Parzellen, die kamen aus den Führungsschichten von Partei und
Wirtschaft und fragten nicht danach, wer eigentlich im Grundbuch steht.
Für wenige Pfennige erhielten sie von den Bürgermeistern eine Fläche zuge-
wiesen und konnten sich darauf, ohne jegliche, baugestalterischen Aspekt
beachten zu müssen, eine sogenannte Datsche bauen. Es wurde verteilt und
gebaut, wo gerade Platz war. Selbst Flurstücksgrenzen waren kein Hindernis,
um einem alten Parteifreund weiterzuhelfen. Nur, wenn ein ganz normaler
Bürger im Rat der Gemeinde ebenfalls nach einem kleinen Grundstück fragte,
war keines mehr vorhanden. Mitte der 70iger Jahre gab es dann einen Minister-
ratsbeschluß, der den weiteren Ausbau der Wochenendsiedlungen einschränken
sollte, der jedoch die Klausel enthielt, daß verdiente Bürger eine Sondergeneh-
migung erhalten können. Um welche "verdienten Bürger" es sich dabei handel-
te, wußte eigentlich jeder. Dies führte auch dazu, daß der damalige Bürgermei-
ster zum Schutz dieser Bürger die Ortseingangsschilder für Böhmerheide ent-
fernen ließ; nicht jeder sollte wissen wo Böhmerheide liegt. Mit Sicherheit
haben einige Nutzer von Wochenendgrundstücken diese im Glauben des recht-
mäßigen Erwerbs erhalten, denn die historischen Zusammenhänge kannte nur
die staatliche Verwaltung.
Mit der Wende von 1989 begann für Böhmerheide ein neuer Abschnitt und zwar
die Neuordnung des Grundbesitzes, die noch einige Jahre andauern wird, denn
der Grund und Boden hat über Nacht an immensen Wert gewonnen, was die
neuen Bundesbürger sehr schnell wußten.
Es sollte heute verständlich sein, daß ein Eigentümer, der schon in den 30iger
Jahren von seinem Eigentum vertrieben wurde, nur weil er Jude war und der,
der 1950 in der Nacht gewarnt wurde, man werde ihn am nächsten Tag früh um
5 Uhr verhaften, weil er Mitarbeiter der Landesregierung war und nicht der SED
angehörte, anders behandelt werden müßte, als derjenige, der aus wirtschaftli-
chen Gründen wegging.
Sicherlich können nur die Bürger dies nachempfinden, die in ihrem Leben
ebenfalls Liebgewonnenes ohne eigenes Verschulden verloren haben. An dieser
Stelle möchten wir Teile eines Briefes zitieren, die ein Alteigentümer an den
heutigen Nutzer 1992 bezüglich seines Grundstücks schrieb:
"Mein Vater hat es bis zu seinem Tode nicht verwunden, daß sein von ihm
aufgebautes Glück in einen Scherbenhaufen verwandelt wurde ( ... ).Er hat mich
immer und immer wieder daran erinnert, daß im Falle einer Wiedervereinigung
sein geliebtes Böhmerheide seinen Enkeln zufallen solle. Ich bin nun weit davon
entfernt, Ihnen irgendeine Schuld an diesen längst vergangenen Dingen beizu-
messen; sie wäre in keinem Falle größer, als das Risiko derjenigen, die im
Dritten Reich Häuser von Juden kauften. Im Unterschied zu vielen ( ... ) denke
ich auch als altmodischer Christ nicht im Traum daran, altes Unrecht durch
neues Unrecht ausgleichen zu wollen und Sie um Ihr Haus zu bringen. Wir
werden daher eine Lösung suchen und finden müssen, die beiden Seiten Rechnung trägt. Einen Totalverzicht auf das Erbe ihres Großvaters kann ich aller-
dings vor meinen Kindern nicht verantworten."
Dieser Ausschnitt zeigt, wie sensibel diese deutsch - deutsche Geschichtsbewäl-
tigung ist. Persönlich können wir nur hoffen, daß viele Betroffene, auf beiden
Seiten, diese Einsicht und das Verständnis aufbringen werden, wie sie der oben
zitierte Schreiber des Briefes zeigt.
Nicht unerwähnt möchten wir lassen, daß sich heute einige Bürger bemühen,
Böhmerheide attraktiver zu machen, sei es im gastronomischen, gewerblichen
oder touristischen Bereich. Und wer Böhmerheide kennenlernen will, sollte
nach dem Lesen dieser Broschüre, mit einer Wanderung um den Weißen See
oder zum Treptow See beginnen.
Von dem Böhmerland ist heute nur noch der Name Böhmerheide übriggeblie-
ben, selbst die Straßennamen, die im Bebauungsplan von 1930 festgelegt
wurden, wie z.B. "Böhmer Straße" oder "Alfred-Bohm-Str.", hat man nach 1973
entfernt und umbenannt.
Damit möchten wir unsere Reise in die Geschichte des Böhmerlandes beenden.
Viele Bohrn's, die heute über den ganzen Erdball verstreut leben, kennen ihre
wechselvolle Geschichte nicht mehr. Vielleicht bietet diese kleine Broschüre
einen Ansatzpunkt zum Nachdenken und zur Besinnung auf die Geschichte
dieser Region?
Groß Schönebeck, im September 1993