Geschichte

Der Groß Schönebecker Raubzug

Geschrieben von Rainer Klemke am . Veröffentlicht in Geschichte

Wie nach jedem Krieg war die Not auch nach dem ersten Weltkrieg in jeder Beziehung groß. Inflation, Reparationszahlungen und Weltwirtschaftskrise schlugen auf das Leben der kleinen Leute durch und jeder musste sehen, wo er bleibt. Das Geld hatte keinen Wert mehr, täglich nahm Zahl der Nullen auf den Scheinen zu und deren Wert ab. So kam es, dass viele Menschen auf die schiefe Bahn gerieten. Verbrechen und Diebstahl nahmen zu.

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Raps vor Groß Schönebeck (30x40)

So wurde auch Groß Schönebeck in den Zwanziger Jahren eines Nachts von Dieben heimgesucht. Diese brachen zuerst in der Kirche ein. Dort entwendeten sie die Leuchter vom Altar und den Altarteppich. Da sie in der Nacht ungestört waren, durchstreiften sie das Dorf und stahlen bei einer Frau Herr die Wäsche von der Leine. Wahrscheinlich mit diesen Textilien gingen sie weiter zum Haus der Familie Dähne. Dort stahlen sie zwei Schweine und schlachteten sie an Ort und Stelle. Meine Mutter traute ihren Augen nicht, als sie sie am nächsten Morgen füttern wollte und den Stall leer vorfand.

Die Diebe wickelten das Fleisch in die erbeutete Wäsche und zusammen mit den Leuchtern in den Altarteppich. Das Diebesgut brachten sie zum Bahnhof und versteckten es dort. Am nächsten Abend, so hatten sie es vor, sollte dann alles mit der Bahn nach Berlin geschafft werden. Das kam aber anders.

Am Nachmittag des nächsten Tages spielten die Kinder von Wilhelm Schenk auf dem Bahnhofsgelände, während der Vater mit dem Verladen von Grubenholz, einem

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Bahnhof Groß Schönebeck in den Zwanziger Jahre

der wichtigsten Produkte Groß Schönebecks in dieser Zeit, beschäftigt war. Einem der Kinder rutschte dabei ein Holzpantoffel zwischen die aufgestapelten Holzstämme. Der Junge stieg ihm nach und entdeckte auf der Suche das Diebesgut.

Dieses sehen und zu seinem Vater zu rennen und den Fund vermelden war eins. Wilhelm Schenk benachrichtigte die Polizei und in aller Eile wurden einige handfeste Männer zusammengerufen. Mit Knüppeln bewaffnet legten sie sich am Abend auf die Lauer und wirklich fanden sich kurz vor der Abfahrt des letzten Zuges nach Berlin drei Kerle bei dem Versteck ein, um rechtzeitig mit dem Diebesgut nach Berlin zu entschwinden. Allerdings waren sie sehr erstaunt, statt ihrer Beute eine gehörige Tracht Prügel in Empfang nehmen zu müssen.

Die Leuchter und der Teppich konnten in die Kirche zurückgebracht werden und schmückten seither wieder den Altar der alten Dorfkirche von Groß Schönebeck.

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Ella Vieritz

Wilhelm kommt

Geschrieben von Rainer Klemke am . Veröffentlicht in Geschichte

Es war an einem verschlafenen Samstagspätnachmittag wenige Jahre vor dem 1. Weltkrieg, als ein völlig verschreckter Bahnhofsvorsteher an der Tür des Bürgermeisters von Groß Schönebeck heftig schellte. „Herr Bürgermeister, Herr Bürgermeister“, rief der Beamte der Niederbarnimer Eisenbahngesellschaft und wischte sich mit einem großen Schnupftuch den Schweiß von der Stirn, „kommen Sie schnell, Berlin hat durchgerufen, dass ein Sonderzug mit dem Kaiser in einer Stunde in Groß Schönebeck eintrifft!“ Dies versetzte nun den Bürgermeister in Alarmstimmung. Seiner Frau rief er zu, den Gehrock und das Chemisett zu richten, er schickte zum Schulleiter, damit er den Schulchor mobilisiere, der gerade anlässlich des Krönungsjubiläums neue Hymnen einstudiert hatte und ließ den Schorfheider Musikanten, die im Gasthof „Stadt Prenzlau“ in der Berliner Straße zu einem 80. Geburtstag aufspielten, ausrichten, dass sie sich in einer Stunde mit Instrumenten am Bahnhof einzufinden hätten. Schon lange hatte der Kaiser, der eigentlich das neue Jagdschloss in Hubertusstock bevorzugte, den Traditionssitz der preußischen Könige in der Schorfheide, das Jagdschloss in Groß Schönebeck nicht mehr besucht. Vielleicht – so das Kalkül des Bürgermeisters -, könnte Wilhelm der II. durch einen schönen Empfang gnädig gestimmt werden und mit seiner möglichst häufigen Anwesenheit das Tor zur Schorfheide auch für andere Besucher attraktiv machen. Das brächte mehr Umsatz in die 7 Gasthäuser des Ortes und Arbeit für die Forstverwaltung im kaiserlichen Jagdrevier.

                                                 

Während die aufgeregten Mütter die Mitglieder des Schulchores auf die Schnelle herausputzten, warf sich der Bürgermeister in seinen Sonntagsstaat, nicht ohne vorher den Gemeindearbeitern aufgetragen zu haben, den Bahnhof mit frischem Tannengrün zu schmücken und der Küche des Gasthofes zur Schorfheide, eine kleine Erfrischung für den Kaiser und sein Gefolge zu richten.

Mittlerweile hatten sich die Anordnungen im Dorf wie ein Lauffeuer herumgesprochen und von überall her strömten die Leute in Richtung Bahnhof, wo der Bürgermeister, der Pastor, der Ortsgendarm, der „dicke Nachtwächter“ Miersch, die Bahnbeamten, die Schorfheider

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Gasthof „Stadt Prenzlau“

Musikanten und der Schulchor gerade Aufstellung genommen hatten, als der Sonderzug mit der schwarzen Dampflokomotive an dem unbeschrankten Bahnübergang am Rosenbecker Weg die Dampfpfeife erklingen ließ. Kaum war der Zug ausgerollt, da gab der Bürgermeister das Signal für die Musikanten, ins Horn zu stoßen, riss sich seine Melone vom Kopf und winkte zu den Fenstern des Zuges, eine Bewegung, die von dem zahlreichen Publikum am Bahnsteig aufgenommen wurde.

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Zug der Niederbarnimer Eisenbahn

Bei näherem Betrachten sahen die erwartungsfrohen Groß Schönebecker allerdings, dass die Abteile des Zuges fast leer waren. Von den Plattformen der Wagen stiegen dann auch nicht der Kaiser und sein Gefolge herab, sondern der Stellmachermeister Wilhelm Nagel aus der Dorfstraße mit seiner Familie, der im Dorf auch gemeinhin „Goldener Onkel“ genannt wurde. Wilhelm Nagel, der mit seinem Geschäft in Groß Schönebeck zu Wohlstand gekommen war, hatte in Berlin die Abfahrt des regulären Zuges nach Groß Schönebeck infolge eines ausgiebigen Umtrunkes nach einem erfolgreichen Geschäftsabschluss verpasst und sich kurzer Hand einen Sonderzug gechartert, um noch rechtzeitig zu dem schon erwähnten 80jährigen Geburtstag zu kommen. Der Bahnbeamte in Wilhelmsruh, der wusste, wie bekannt der „Goldene Onkel“ in Groß Schönebeck war, hatte daher bei seinem Anruf bei seinem Schönebecker Kollegen nur preußisch knapp gesagt, „Wilhelm kommt mit Sonderzug“, was der kaisertreue Wilhelmfan auf seine Majestät bezogen und in dem Schorfheidedorf Alarm geschlagen hatte. Nun die Schönebecker, die schon immer zu feiern wussten, machten das Beste aus der Situation und zogen nun gemeinsam mit dem Bürgermeister und dem Ehepaar Nagel an der Spitze zu dem Jubilar in die Gaststätte und feierten ein denkwürdiges Geburtstagsfest und noch heute wird in Groß Schönebeck vom „Wilhelms Sonderzug“ erzählt.

Groß Schönebecker Turmgeschichte

Geschrieben von Rainer Klemke am . Veröffentlicht in Geschichte

Der alte Wehrturm der Immanuel-Kirche in Groß Schönebeck grüßt den Wanderer, gleich aus welcher Richtung er sich dem geschichtsträchtigen „Tor zu Schorfheide“ nähert. Der 38m hohe Turm, der auf einer Feldsteinkonstruktion der romanischen Vorgängerkirche aus dem 14. Jahrhundert aufbaut, markiert die Mitte des Ortes und vermittelt mit seiner gedrungenen, von hohen Bäumen umstandenen Gestalt ein Gefühl der Geborgenheit und des Friedens. Niemand sieht ihm an, dass er Zeuge der Geschichte seit dem 30-jährigem Krieg war, als 1634 die Kirche und der Ort niedergebrannt wurden und er allein der einfallenden Soldateska trutzte, dass er die preußischen Kurfürsten (die schon immer Patrone der Kirche waren), Könige und die deutschen Kaiser zu seinen Füßen sah und er auch ein steinerner Zeuge der Zeitgeschichte des 20.Jahrhunderts und deren führenden Gestaltern ist.

kirchturm

Er sah den Großen Kurfürsten 1680 den Grundstein für sein Jagdschloss in der Schorfheide legen. Bei einem Blick durchs Fenster dieses Schlosses konnte er im Dezember 1722 Friedrich den Großen an seinem Stehpult sehen, als dieser die Grundlagen für die neue preußische Verwaltungsstruktur formulierte, die für fast alle Staaten Europas zum Vorbild wurde. Er sah so manche Strecke erlegtes Wild vor dem Schlosse liegen, das die Staatsoberhäupter von Preußen, dem Deutschen Reich und der DDR mit ihren hohen Gästen erlegt hatten. Er sah Friedrich Ebert und Paul von Hindenburg, die ihr präsidiales Landhaus am Werbellinsee hatten, in der Schorfheide jagen. Er sah am 11. Juni 1934 wie sich die Honoratioren des Ortes vor Hermann Göring auf dem Sportplatz verneigten, als dieser die Fahne der örtlichen NSDAP-Organisation im Rahmen eines glanzvollen Festaktes weihte und versprach, die Schorfheide zum größten Naturschutzgebiet zu machen. Nur wenige Wochen später, am 21. Juli 1934, erlebte er an der von Gestapo, SA, SS und winkenden Schulklassen gesäumten und fahnengeschmückten Fernstraße durch Groß Schönebeck die prächtig inszenierte Überführung der in Schweden exhumierten ersten Ehefrau Görings nach Carinhall. Dies war das einzige Mal, dass auch Adolf Hitler, der selbst mit der Jagd nichts zu tun haben wollte, den nördlich des Ortes gelegenen Landsitz des preußischen Ministerpräsidenten, Reichsjägermeisters, SA-Gründers, Luftwaffenministers und späteren Reichsmarschalls via Groß Schönebeck besuchte. Dort trafen sich gern auch Prinz August Wilhelm, der vierte Sohn des in Holland lebenden letzten Kaisers Wilhelm II und viele andere Staatsgäste, die von Göring, der Nummer 2 in der Hierarchie des Dritten Reiches, betreut wurden. Adolf Hitler pflegte gesellschaftlichen und diplomatischen Umgang nur insoweit, wie dieser zu seiner propagandistischen Darstellung nötig war. Insoweit entwickelte sich die Schorfheide mit Carinhall bei Dölln vor allem gegen Ende des Krieges zum heimlichen Regierungssitz, weil Hermann Göring in zunehmendem Maße von hier aus die Regierungsgeschäfte führte.

Fast direkt zu Füßen des alten Turms spielte sich am 9. November 1938 die Groß Schönebecker Version der Reichsprogromnacht ab. Die örtliche SA und ihre Kumpanen aus Zerpenschleuse verwüsteten das Kaufhaus des jüdischen Kaufmanns Friedhelm Leiser, eines Mannes, der zu den überaus angesehenen und beliebtesten Bürgern Groß Schönebeck gehört hatte. Leiser und seine Frau starben später im KZ.

Der Turm sah auch den in Groß Schönebeck einziehen: Zunächst verlor er seine Glocken aus den Jahren 1655, 1682 und 1732 und 105 der Pfeifen der Orgel aus dem Jahr 1749, die im Januar 1942 zu Rüstungszwecken eingeschmolzen werden sollten. Dann sah er die ukrainischen Zwangsarbeiter, die den Berliner Müll aus den Waggons der Niederbarnimer Eisenbahn ausladen und auf die Müllkippe am Ortsausgang in Richtung Berlin zu bringen hatten. Er sah die Französischen Zwangsarbeiter auf den Felder schuften. Er sah die zurückflutenden deutschen Soldaten und die Flüchtlinge, die sich vor der vorrückenden Front nach Westen absetzten und in den Scheunen des Ortes Übernachtung und bei den Bauern Nahrung zu finden hofften. Er sah in den letzten Kriegstagen, wie rumänische SS, die unter dem Befehl eines am 26. April 1945 von einem russischen Tiefflieger erschossenen deutschen Offiziers stand, den Ortspfarrer, Superintendent Wagner und seine Familie grausam ermordete, weil dieser sich weigerte, die Kirche und das Gemeindehaus als Stellungen gegen die feindlichen Truppen ausbauen zu lassen – so die Version der Akten des Konsistoriums in Berlin, die allerdings auch die Möglichkeit offen lässt, dass es die am 29. April anrückenden Russen oder Polen gewesen sein könnten. Ebenso uneindeutig ist, wer das Kircheninnere beschädigt und die Kanzeltreppe abgerissen hat.

Der Turm sah, wie die Rumänen am Vorabend ihres Abzuges im Keller des Schlosses die Weinbestände plünderten und junge Frauen des Ortes vergewaltigten. Der fast kampflose Einmarsch der sowjetischen Verbände in den Ort am 29. April 1945 schonte zwar die Gebäude, aber auch hier gab es Plünderungen der Verstecke der Einwohner und Vergewaltigungen der Frauen, die sich nicht auf die Flucht nach Westen oder in die umliegenden Wälder gemacht hatten. Der Turm sah die Verhaftungen all’ derer, die im Verdacht standen (oder gebracht wurden), dem NS-Regime nahe gestanden zu haben. Er sah die Anlegung der Gefangenenlager in der Sparkasse, in der Forstverwaltung und eines großen temporären Kriegsgefangenenlagers bei Grassows Mühle mit über 800 Gefangenen, vor allem Truppenteile der Division Hermann Göring, die zuvor als letzten Auftrag ihres Namensgebers Carinhall in Schutt und Asche gelegt und die zusammen geraubten und auch gekauften immensen Kunstschätze Görings abtransportiert hatten.

All’ diesem hatte der Turm der Immanuelkirche, wie sie seit der Weihe als Referenz an die Partnergemeinde Styrum in Mühlheim an der Ruhr am 8. Oktober 1989 heißt, nicht Einhalt gebieten können. Nun sah er die Not der ersten Nachkriegsjahre, aber auch die gemeinsame Anstrengung des Dorfes für die glückliche Rückführung seiner, wegen einer langen Irrfahrt nicht eingeschmolzenen Glocken am 22. März 1948, die im Oktober 1946 in einem Oranienburger Glockenlager entdeckt worden waren. Den Klang der wieder vollständigen Orgel hörte der Turm erst 1966 wieder erklingen. Er sah, wie auf der ehemaligen Müllkippe Grabeland angelegt wurde, um Gemüse zu produzieren, die Enteignungen und Landverteilung durch die Bodenreform, den Wiederaufbau der Freiwilligen Feuerwehr, des Schulbetriebes, die Einrichtung eines Lehrerbildungsseminars in den Baracken des ehemaligen Reichsarbeitsdienstes am Sportplatz, aber auch die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft. Am 18. April 1974 erklang von seinem Glockenstuhl die Feuerglocke und vermeldete, dass die Gastwirtschaft Regling in unmittelbarer Nachbarschaft kurz vor der großen Jugendweihefeier des Ortes abbrannte. Am 7. Oktober 1975 wurde gegenüber der Kirche die – „dank“ Erich Honecker – bestsortierte und umsatzstärkste Kaufhalle der DDR eingeweiht, die eine besondere Form des DDR-Tourismus in Gang setzte und Kunden aus allen Teilen des Landes anlockte, so dass für die Einwohner ein eigener Einkaufsausweis ausgegeben werden musste.

Wohl alles, was in der DDR Rang und Namen hatte, ließ sich in Groß Schönebeck und Umgebung nieder, um hier zu jagen oder sich zu erholen – und sei es als Gäste der DDR-Oberen (darunter die Staatspitzen fast aller Länder des Warschauer Paktes von Breshniew bis Husák) in den SED-Gästehäusern in Dölln, welches Göring für seinen Leibjäger Schade hatten bauen lassen, und im ehemals kaiserlichen Schloss Hubertusstock, wo schon Göring seine Gäste unterbrachte. So erholten sich Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck am Döllnsee. Helmut Schmidt, Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, verhandelte mit Erich Honecker in Schloss Hubertusstock und am Döllnsee.

Erich Honecker, seit seiner Zeit als FDJ-Funktionär in der Schorfheide als Jäger unterwegs, machte sich im Forsthaus Wildfang am Pinnowsee ansässig. Sein Jagd- und Skatfreund, der oberste Wirtschaftslenker der DDR, Günter Mittag, übernahm von NS-Reichsbauernführer Darré das Grundstück am Tremmer See. Sein Außenhandelsgehilfe und Milliarden-DM-Kredit-Vermittler Alexander Schalck-Golodkowski hatte seine Villa am nahen Gollinsee. Volkskammerpräsident Horst Sindermann zog es ins Forsthaus Reluch nahe den Glasow-Seen. Ministerpräsident Willi Stoph und Verteidigungsminister Heinz Hoffmann hatten ihre Boote (wie auch Erich Honecker) im Bootshaus bei Hubertusstock. Robert Menzel, Honecker – Vertrauter, stellvertretender Verkehrsminister und Reichsbahnchef hatte sich das Forsthaus am Lotzinsee als Ferienhaus auserkoren. Honecker-Sekretärin Elli Kelm war mit Papagei und Familie in der Nähe ihres Chefs im Forsthaus Eichheide ansässig geworden.

Während der Turm immer neue und prominente Gesichter vor der Kaufhalle und bei den zahlreichen Staatsjagden sah, vermisste er – bis zum Mauerbau am 13. August 1961 - immer mehr Gemeindemitglieder, die nach Berlin oder in den Westen gegangen waren und des Sonntags nicht mehr zum Gottesdienst kamen. Vor allem die Jugend zog es in die große Stadt und in den Westen, das verstärkte sich nach dem Mauerfall am 9. November 1989 und der Währungsreform im Juli 1990. Arbeit und Aufstiegsmöglichkeiten wurden wie überall auf dem Land knapp, dafür tat sich seither auch vieles Neues im Ort:

Die Wälder und Seen der Schorfheide sind nun für alle da und nicht mehr Staatsjagdgebiet, die Zäune und Sperrgebiete sind weg, weder russisches noch deutsches Militär oder Staatssicherheit residiert im Ort oder dessen Nähe, allenfalls Bundeskanzlerin Angela Merkel – erstes ostdeutsches Staatsoberhaupt ganz Deutschlands - überfliegt Groß Schönebeck mit dem Hubschrauber auf dem Weg in ihr Ferienhaus nahe dem benachbarten Templin. Aus der Kaufhalle wurde EDEKA, mit PLUS kam ein zweiter Markt dazu, die Tankstelle wurde neu gebaut, die LPG wurde zur GmbH, die alte Schmiede zum Bürger- und Fremdenverkehrsbüro. Groß Schönebeck erhielt den schönsten Wildpark Brandenburgs und drei Reiterhöfe, es wurde eine neue Feuerwache mit Veranstaltungsraum für jedermann gebaut, Jürgen Bohm gründete sein Kutschenmuseum, die Straße durch den Ort und der Bahnhof sind neu, an der Eichhorster Straße wird eine Geothermiekraftwerk entstehen, das Schloss ist nun für alle zugänglich und beherbergt das Heimatmuseum, viele neue Bürgerinnen und Bürger haben im Ort gebaut und Groß Schönebeck ist Teil der neuen Großgemeinde Schorfheide – kurz, Groß Schönebeck ist auf dem besten Weg, ein ganz normaler, wunderschön gelegener und attraktiver Lebens- und Ferienort mit modernem Bahnanschluss nach Berlin zu werden. Ein Ort, der seinen zahlreichen Gästen und Einwohnern in allen Bereichen offen steht und sich zur 707-Jahrfeier vom 06.07. bis zum 08.07.07 mit einem großen Festprogramm - u.a. mit einem großen Festumzug - vorstellt. Darauf freut sich auch der alte Turm der Dorfkirche, der sich am Eröffnungsabend erstmals in ein anmutiges Lichterkleid hüllen wird und weiterhin dem Wanderer von der spannenden Zeit-Geschichte seines Standortes kündet.

Ehrengrab für die Familie Wagner

Geschrieben von Rainer Klemke am . Veröffentlicht in Geschichte

Ansprache des Sprechers des Bürgervereins, Rainer E. Klemke, anlässlich der Einweihung des Gedenksteins vor dem Pfarrhaus in der Schlossstraße am 29. April 2013

Es war – anders als heute - ein sonniger Frühlingstag, jener 29. April 1945. Die meisten Groß Schönebecker waren unterwegs. Nicht zum Picknick, sondern auf dem Treck nach Westen oder mit dem wichtigsten Gepäck im Wald versteckt. Das Schmettern der Feldlerchen wurde vom Heulen vereinzelter Granaten unterbrochen, die von Eichhorst her kommend auf die wenigen Widerstandsnester deutscher Einheiten von der vorrückenden sowjetischen Streitkräften abgefeuert wurden.

Der Ring um Berlin war bereits geschlossen und die sowjetischen Truppen bis in das Regierungsviertel vorgerückt. Einen Tag später sollte sich Hitler mit seiner Freundin Eva Braun im Führerbunker unter er Reichskanzlei im Tiergarten das Leben nehmen. Die Wunderwaffe und die angeblich rettende Armee Wenk waren ausgeblieben, es herrschte Endzeitstimmung und Verzweiflung ob der ungewissen Zukunft bei den versprengten deutschen Soldaten wie auch bei der Zivilbevölkerung. Was würde mit ihnen geschehen, wenn die Sowjets einrücken und sich so verhalten würden, wie es die deutschen Truppen zuvor im Osten gemacht hatten?

Von dieser Sorge war auch die rumänisch-siebenbürgische SS, einer unter deutschem Befehl umgetrieben, von denen die Eichhorster erzählen, dass sie dort schon längere Zeit dort im Wald gelegen haben.

Sie hatten von den Deutschen nichts zu erwarten und erst recht nichts von den heranrückenden Sowjets. Ihre Heimat war weit weg und würde sie, wenn sie sie jemals erreichen sollten, als Kollaborateure sicher nicht mit offenen Armen empfangen. Zudem wurden sie von einem deutschen Offizier angeführt, der Durchhalteparolen verbreitete und den Kampf bis zur letzten Patrone befahl.

In der Nacht zuvor hatten sie sich mit allen auffindbaren Alkoholvorräten und erreichbaren Frauen ins Jagdschloss zurückgezogen und dort exzessiv gefeiert. Ob ihr Offizier danach von einem sowjetischen Tiefflieger oder ob er mit Bauchschuss aus den eigenen Reihen tödlich getroffen wurde, ist nicht überliefert. Auch dafür warum und wie die Familie Wagner so grausam umgebracht wurde, gibt es keine Zeugnisse, außer dem Umstand, dass es vor dem Einzug der Sowjets geschehen sein muss. Mutmaßungen gehen dahin, dass sich der Pfarrer geweigert haben soll, den Wehrturm der Kirche als Abwehrstellung gegen die anrückenden Truppen zur Verfügung zu stellen. Die Frage bleibt, wie er dies hätte verhindern können. Andere Mutmaßung sprechen von dem Davidstern am Gemeindehaus, der der Auslöser für das Massaker gewesen sein könnte oder dass der Pfarrer die Frau und Schwiegertochter beschützen wollte. Tatsache ist, dass die Familie des Pfarrers, die bereits auf gepackten Koffern saß und eigentlich schon weg sein sollte, diesen Tag und den Abzug der Rumänen nicht überlebt hat und in einer Brutalität ermordet wurde, die einen fassungslos macht.

Am nächsten Tag, dem 30. April zog der ehemalige Kommunist Paul Grabowski, der als Rotkreuzhelfer bis zuletzt im Ort ausgeharrt hatte, mit wenigen anderen im Ort verbliebenen Bürgern den sowjetischen Truppen mit einer weißen Fahne entgegen. Die marschierten ein und durchsuchten Haus für Haus nach deutschen Soldaten und der deutschsprachige russische Major bezog sein Quartier in der Forstverwaltung in der Liebenwalder Straße. Hier bekam er die Meldung von den Leichen im Pfarrhaus, was zunächst als Selbstmord gedeutet wurde. Er schickte einen Panjewagen und befahl Erna Staberow, damit die Leichen in Decken gewickelt zu bergen und auf dem Friedhof zu bestatten. Dort bekam die Familie ein Grab unweit der heutigen hinteren Wasserstelle, das aber in den 60er Jahren eingeebnet wurde.

Weshalb zu DDR-Zeiten dieses brutalen Mordes am letzten Kriegstag in Groß Schönebeck nicht gedacht wurde als Beispiel für NS-Unrecht und als Mahnung gegen den Krieg, aber auch als das brutalste Verbrechen der Groß Schöneberger Geschichte, ist nicht nachzuvollziehen.

Mit einer Tafel am Pfarrhaus war nach der Wiedervereinigung ein Anfang gemacht worden, das Gedenken aufzunehmen. Dem Bürgerverein Groß Schönebeck erschien die aber vom Tenor und Wirkung nicht hinreichend für diesen Anlass. In Zusammenarbeit mit der Kirchengemeinde unserer Gemeinde Schorfheide, besonders aber durch das Engagement von Anette Flade und Gerhard Baumeister können wir heute nun nicht nur einen würdigen Gedenkstein am Tatort, sondern auch das wiedergewonnenes Ehrengrab für die Familie Wagner einweihen und ihrer gedenken.

wagner

Herzlichen Dank an Christa Stabenow, die für die Bestattung der Familie Wagner sorgte und jahrelang die Grabpflege übernahm. Dank auch an den Steinmetz, Herrn Wundt, und Bürgermeister Schoeknecht, die unser Projekt so tatkräftig unterstützt haben.

Unser Dank gilt allen, die daran mitgewirkt haben, uns die Erinnerung an die Geschichte unseres Ortes wach zu halten. Als Mahnung und als Auftrag an die Jugend, nicht den rechten Rattenfängern zu folgen und für den Wert der Freiheit und der Demokratie einzutreten.

Und dies gerade im Kontext des Themenjahres 2013 – Zerstörte Vielfalt anlässlich des 80. Jahrestages der Machtübertragung an die Nationalsozialisten sowie des 75. Jahrestages der Novemberpogrome, die auch bei uns hier in Groß Schönebeck z.B. am Kaufhaus der jüdischen Familie Leiser, für die wir noch einen Stolperstein verlegen wollen, stattgefunden haben.


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