Groß Schönebecker Turmgeschichte

Geschrieben von Rainer Klemke am . Veröffentlicht in Geschichte

Der alte Wehrturm der Immanuel-Kirche in Groß Schönebeck grüßt den Wanderer, gleich aus welcher Richtung er sich dem geschichtsträchtigen „Tor zu Schorfheide“ nähert. Der 38m hohe Turm, der auf einer Feldsteinkonstruktion der romanischen Vorgängerkirche aus dem 14. Jahrhundert aufbaut, markiert die Mitte des Ortes und vermittelt mit seiner gedrungenen, von hohen Bäumen umstandenen Gestalt ein Gefühl der Geborgenheit und des Friedens. Niemand sieht ihm an, dass er Zeuge der Geschichte seit dem 30-jährigem Krieg war, als 1634 die Kirche und der Ort niedergebrannt wurden und er allein der einfallenden Soldateska trutzte, dass er die preußischen Kurfürsten (die schon immer Patrone der Kirche waren), Könige und die deutschen Kaiser zu seinen Füßen sah und er auch ein steinerner Zeuge der Zeitgeschichte des 20.Jahrhunderts und deren führenden Gestaltern ist.

kirchturm

Er sah den Großen Kurfürsten 1680 den Grundstein für sein Jagdschloss in der Schorfheide legen. Bei einem Blick durchs Fenster dieses Schlosses konnte er im Dezember 1722 Friedrich den Großen an seinem Stehpult sehen, als dieser die Grundlagen für die neue preußische Verwaltungsstruktur formulierte, die für fast alle Staaten Europas zum Vorbild wurde. Er sah so manche Strecke erlegtes Wild vor dem Schlosse liegen, das die Staatsoberhäupter von Preußen, dem Deutschen Reich und der DDR mit ihren hohen Gästen erlegt hatten. Er sah Friedrich Ebert und Paul von Hindenburg, die ihr präsidiales Landhaus am Werbellinsee hatten, in der Schorfheide jagen. Er sah am 11. Juni 1934 wie sich die Honoratioren des Ortes vor Hermann Göring auf dem Sportplatz verneigten, als dieser die Fahne der örtlichen NSDAP-Organisation im Rahmen eines glanzvollen Festaktes weihte und versprach, die Schorfheide zum größten Naturschutzgebiet zu machen. Nur wenige Wochen später, am 21. Juli 1934, erlebte er an der von Gestapo, SA, SS und winkenden Schulklassen gesäumten und fahnengeschmückten Fernstraße durch Groß Schönebeck die prächtig inszenierte Überführung der in Schweden exhumierten ersten Ehefrau Görings nach Carinhall. Dies war das einzige Mal, dass auch Adolf Hitler, der selbst mit der Jagd nichts zu tun haben wollte, den nördlich des Ortes gelegenen Landsitz des preußischen Ministerpräsidenten, Reichsjägermeisters, SA-Gründers, Luftwaffenministers und späteren Reichsmarschalls via Groß Schönebeck besuchte. Dort trafen sich gern auch Prinz August Wilhelm, der vierte Sohn des in Holland lebenden letzten Kaisers Wilhelm II und viele andere Staatsgäste, die von Göring, der Nummer 2 in der Hierarchie des Dritten Reiches, betreut wurden. Adolf Hitler pflegte gesellschaftlichen und diplomatischen Umgang nur insoweit, wie dieser zu seiner propagandistischen Darstellung nötig war. Insoweit entwickelte sich die Schorfheide mit Carinhall bei Dölln vor allem gegen Ende des Krieges zum heimlichen Regierungssitz, weil Hermann Göring in zunehmendem Maße von hier aus die Regierungsgeschäfte führte.

Fast direkt zu Füßen des alten Turms spielte sich am 9. November 1938 die Groß Schönebecker Version der Reichsprogromnacht ab. Die örtliche SA und ihre Kumpanen aus Zerpenschleuse verwüsteten das Kaufhaus des jüdischen Kaufmanns Friedhelm Leiser, eines Mannes, der zu den überaus angesehenen und beliebtesten Bürgern Groß Schönebeck gehört hatte. Leiser und seine Frau starben später im KZ.

Der Turm sah auch den in Groß Schönebeck einziehen: Zunächst verlor er seine Glocken aus den Jahren 1655, 1682 und 1732 und 105 der Pfeifen der Orgel aus dem Jahr 1749, die im Januar 1942 zu Rüstungszwecken eingeschmolzen werden sollten. Dann sah er die ukrainischen Zwangsarbeiter, die den Berliner Müll aus den Waggons der Niederbarnimer Eisenbahn ausladen und auf die Müllkippe am Ortsausgang in Richtung Berlin zu bringen hatten. Er sah die Französischen Zwangsarbeiter auf den Felder schuften. Er sah die zurückflutenden deutschen Soldaten und die Flüchtlinge, die sich vor der vorrückenden Front nach Westen absetzten und in den Scheunen des Ortes Übernachtung und bei den Bauern Nahrung zu finden hofften. Er sah in den letzten Kriegstagen, wie rumänische SS, die unter dem Befehl eines am 26. April 1945 von einem russischen Tiefflieger erschossenen deutschen Offiziers stand, den Ortspfarrer, Superintendent Wagner und seine Familie grausam ermordete, weil dieser sich weigerte, die Kirche und das Gemeindehaus als Stellungen gegen die feindlichen Truppen ausbauen zu lassen – so die Version der Akten des Konsistoriums in Berlin, die allerdings auch die Möglichkeit offen lässt, dass es die am 29. April anrückenden Russen oder Polen gewesen sein könnten. Ebenso uneindeutig ist, wer das Kircheninnere beschädigt und die Kanzeltreppe abgerissen hat.

Der Turm sah, wie die Rumänen am Vorabend ihres Abzuges im Keller des Schlosses die Weinbestände plünderten und junge Frauen des Ortes vergewaltigten. Der fast kampflose Einmarsch der sowjetischen Verbände in den Ort am 29. April 1945 schonte zwar die Gebäude, aber auch hier gab es Plünderungen der Verstecke der Einwohner und Vergewaltigungen der Frauen, die sich nicht auf die Flucht nach Westen oder in die umliegenden Wälder gemacht hatten. Der Turm sah die Verhaftungen all’ derer, die im Verdacht standen (oder gebracht wurden), dem NS-Regime nahe gestanden zu haben. Er sah die Anlegung der Gefangenenlager in der Sparkasse, in der Forstverwaltung und eines großen temporären Kriegsgefangenenlagers bei Grassows Mühle mit über 800 Gefangenen, vor allem Truppenteile der Division Hermann Göring, die zuvor als letzten Auftrag ihres Namensgebers Carinhall in Schutt und Asche gelegt und die zusammen geraubten und auch gekauften immensen Kunstschätze Görings abtransportiert hatten.

All’ diesem hatte der Turm der Immanuelkirche, wie sie seit der Weihe als Referenz an die Partnergemeinde Styrum in Mühlheim an der Ruhr am 8. Oktober 1989 heißt, nicht Einhalt gebieten können. Nun sah er die Not der ersten Nachkriegsjahre, aber auch die gemeinsame Anstrengung des Dorfes für die glückliche Rückführung seiner, wegen einer langen Irrfahrt nicht eingeschmolzenen Glocken am 22. März 1948, die im Oktober 1946 in einem Oranienburger Glockenlager entdeckt worden waren. Den Klang der wieder vollständigen Orgel hörte der Turm erst 1966 wieder erklingen. Er sah, wie auf der ehemaligen Müllkippe Grabeland angelegt wurde, um Gemüse zu produzieren, die Enteignungen und Landverteilung durch die Bodenreform, den Wiederaufbau der Freiwilligen Feuerwehr, des Schulbetriebes, die Einrichtung eines Lehrerbildungsseminars in den Baracken des ehemaligen Reichsarbeitsdienstes am Sportplatz, aber auch die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft. Am 18. April 1974 erklang von seinem Glockenstuhl die Feuerglocke und vermeldete, dass die Gastwirtschaft Regling in unmittelbarer Nachbarschaft kurz vor der großen Jugendweihefeier des Ortes abbrannte. Am 7. Oktober 1975 wurde gegenüber der Kirche die – „dank“ Erich Honecker – bestsortierte und umsatzstärkste Kaufhalle der DDR eingeweiht, die eine besondere Form des DDR-Tourismus in Gang setzte und Kunden aus allen Teilen des Landes anlockte, so dass für die Einwohner ein eigener Einkaufsausweis ausgegeben werden musste.

Wohl alles, was in der DDR Rang und Namen hatte, ließ sich in Groß Schönebeck und Umgebung nieder, um hier zu jagen oder sich zu erholen – und sei es als Gäste der DDR-Oberen (darunter die Staatspitzen fast aller Länder des Warschauer Paktes von Breshniew bis Husák) in den SED-Gästehäusern in Dölln, welches Göring für seinen Leibjäger Schade hatten bauen lassen, und im ehemals kaiserlichen Schloss Hubertusstock, wo schon Göring seine Gäste unterbrachte. So erholten sich Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck am Döllnsee. Helmut Schmidt, Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, verhandelte mit Erich Honecker in Schloss Hubertusstock und am Döllnsee.

Erich Honecker, seit seiner Zeit als FDJ-Funktionär in der Schorfheide als Jäger unterwegs, machte sich im Forsthaus Wildfang am Pinnowsee ansässig. Sein Jagd- und Skatfreund, der oberste Wirtschaftslenker der DDR, Günter Mittag, übernahm von NS-Reichsbauernführer Darré das Grundstück am Tremmer See. Sein Außenhandelsgehilfe und Milliarden-DM-Kredit-Vermittler Alexander Schalck-Golodkowski hatte seine Villa am nahen Gollinsee. Volkskammerpräsident Horst Sindermann zog es ins Forsthaus Reluch nahe den Glasow-Seen. Ministerpräsident Willi Stoph und Verteidigungsminister Heinz Hoffmann hatten ihre Boote (wie auch Erich Honecker) im Bootshaus bei Hubertusstock. Robert Menzel, Honecker – Vertrauter, stellvertretender Verkehrsminister und Reichsbahnchef hatte sich das Forsthaus am Lotzinsee als Ferienhaus auserkoren. Honecker-Sekretärin Elli Kelm war mit Papagei und Familie in der Nähe ihres Chefs im Forsthaus Eichheide ansässig geworden.

Während der Turm immer neue und prominente Gesichter vor der Kaufhalle und bei den zahlreichen Staatsjagden sah, vermisste er – bis zum Mauerbau am 13. August 1961 - immer mehr Gemeindemitglieder, die nach Berlin oder in den Westen gegangen waren und des Sonntags nicht mehr zum Gottesdienst kamen. Vor allem die Jugend zog es in die große Stadt und in den Westen, das verstärkte sich nach dem Mauerfall am 9. November 1989 und der Währungsreform im Juli 1990. Arbeit und Aufstiegsmöglichkeiten wurden wie überall auf dem Land knapp, dafür tat sich seither auch vieles Neues im Ort:

Die Wälder und Seen der Schorfheide sind nun für alle da und nicht mehr Staatsjagdgebiet, die Zäune und Sperrgebiete sind weg, weder russisches noch deutsches Militär oder Staatssicherheit residiert im Ort oder dessen Nähe, allenfalls Bundeskanzlerin Angela Merkel – erstes ostdeutsches Staatsoberhaupt ganz Deutschlands - überfliegt Groß Schönebeck mit dem Hubschrauber auf dem Weg in ihr Ferienhaus nahe dem benachbarten Templin. Aus der Kaufhalle wurde EDEKA, mit PLUS kam ein zweiter Markt dazu, die Tankstelle wurde neu gebaut, die LPG wurde zur GmbH, die alte Schmiede zum Bürger- und Fremdenverkehrsbüro. Groß Schönebeck erhielt den schönsten Wildpark Brandenburgs und drei Reiterhöfe, es wurde eine neue Feuerwache mit Veranstaltungsraum für jedermann gebaut, Jürgen Bohm gründete sein Kutschenmuseum, die Straße durch den Ort und der Bahnhof sind neu, an der Eichhorster Straße wird eine Geothermiekraftwerk entstehen, das Schloss ist nun für alle zugänglich und beherbergt das Heimatmuseum, viele neue Bürgerinnen und Bürger haben im Ort gebaut und Groß Schönebeck ist Teil der neuen Großgemeinde Schorfheide – kurz, Groß Schönebeck ist auf dem besten Weg, ein ganz normaler, wunderschön gelegener und attraktiver Lebens- und Ferienort mit modernem Bahnanschluss nach Berlin zu werden. Ein Ort, der seinen zahlreichen Gästen und Einwohnern in allen Bereichen offen steht und sich zur 707-Jahrfeier vom 06.07. bis zum 08.07.07 mit einem großen Festprogramm - u.a. mit einem großen Festumzug - vorstellt. Darauf freut sich auch der alte Turm der Dorfkirche, der sich am Eröffnungsabend erstmals in ein anmutiges Lichterkleid hüllen wird und weiterhin dem Wanderer von der spannenden Zeit-Geschichte seines Standortes kündet.


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