Wilhelm kommt
Es war an einem verschlafenen Samstagspätnachmittag wenige Jahre vor dem 1. Weltkrieg, als ein völlig verschreckter Bahnhofsvorsteher an der Tür des Bürgermeisters von Groß Schönebeck heftig schellte. „Herr Bürgermeister, Herr Bürgermeister“, rief der Beamte der Niederbarnimer Eisenbahngesellschaft und wischte sich mit einem großen Schnupftuch den Schweiß von der Stirn, „kommen Sie schnell, Berlin hat durchgerufen, dass ein Sonderzug mit dem Kaiser in einer Stunde in Groß Schönebeck eintrifft!“ Dies versetzte nun den Bürgermeister in Alarmstimmung. Seiner Frau rief er zu, den Gehrock und das Chemisett zu richten, er schickte zum Schulleiter, damit er den Schulchor mobilisiere, der gerade anlässlich des Krönungsjubiläums neue Hymnen einstudiert hatte und ließ den Schorfheider Musikanten, die im Gasthof „Stadt Prenzlau“ in der Berliner Straße zu einem 80. Geburtstag aufspielten, ausrichten, dass sie sich in einer Stunde mit Instrumenten am Bahnhof einzufinden hätten. Schon lange hatte der Kaiser, der eigentlich das neue Jagdschloss in Hubertusstock bevorzugte, den Traditionssitz der preußischen Könige in der Schorfheide, das Jagdschloss in Groß Schönebeck nicht mehr besucht. Vielleicht – so das Kalkül des Bürgermeisters -, könnte Wilhelm der II. durch einen schönen Empfang gnädig gestimmt werden und mit seiner möglichst häufigen Anwesenheit das Tor zur Schorfheide auch für andere Besucher attraktiv machen. Das brächte mehr Umsatz in die 7 Gasthäuser des Ortes und Arbeit für die Forstverwaltung im kaiserlichen Jagdrevier.
Während die aufgeregten Mütter die Mitglieder des Schulchores auf die Schnelle herausputzten, warf sich der Bürgermeister in seinen Sonntagsstaat, nicht ohne vorher den Gemeindearbeitern aufgetragen zu haben, den Bahnhof mit frischem Tannengrün zu schmücken und der Küche des Gasthofes zur Schorfheide, eine kleine Erfrischung für den Kaiser und sein Gefolge zu richten.
Mittlerweile hatten sich die Anordnungen im Dorf wie ein Lauffeuer herumgesprochen und von überall her strömten die Leute in Richtung Bahnhof, wo der Bürgermeister, der Pastor, der Ortsgendarm, der „dicke Nachtwächter“ Miersch, die Bahnbeamten, die Schorfheider
Gasthof „Stadt Prenzlau“
Musikanten und der Schulchor gerade Aufstellung genommen hatten, als der Sonderzug mit der schwarzen Dampflokomotive an dem unbeschrankten Bahnübergang am Rosenbecker Weg die Dampfpfeife erklingen ließ. Kaum war der Zug ausgerollt, da gab der Bürgermeister das Signal für die Musikanten, ins Horn zu stoßen, riss sich seine Melone vom Kopf und winkte zu den Fenstern des Zuges, eine Bewegung, die von dem zahlreichen Publikum am Bahnsteig aufgenommen wurde.
Zug der Niederbarnimer Eisenbahn
Bei näherem Betrachten sahen die erwartungsfrohen Groß Schönebecker allerdings, dass die Abteile des Zuges fast leer waren. Von den Plattformen der Wagen stiegen dann auch nicht der Kaiser und sein Gefolge herab, sondern der Stellmachermeister Wilhelm Nagel aus der Dorfstraße mit seiner Familie, der im Dorf auch gemeinhin „Goldener Onkel“ genannt wurde. Wilhelm Nagel, der mit seinem Geschäft in Groß Schönebeck zu Wohlstand gekommen war, hatte in Berlin die Abfahrt des regulären Zuges nach Groß Schönebeck infolge eines ausgiebigen Umtrunkes nach einem erfolgreichen Geschäftsabschluss verpasst und sich kurzer Hand einen Sonderzug gechartert, um noch rechtzeitig zu dem schon erwähnten 80jährigen Geburtstag zu kommen. Der Bahnbeamte in Wilhelmsruh, der wusste, wie bekannt der „Goldene Onkel“ in Groß Schönebeck war, hatte daher bei seinem Anruf bei seinem Schönebecker Kollegen nur preußisch knapp gesagt, „Wilhelm kommt mit Sonderzug“, was der kaisertreue Wilhelmfan auf seine Majestät bezogen und in dem Schorfheidedorf Alarm geschlagen hatte. Nun die Schönebecker, die schon immer zu feiern wussten, machten das Beste aus der Situation und zogen nun gemeinsam mit dem Bürgermeister und dem Ehepaar Nagel an der Spitze zu dem Jubilar in die Gaststätte und feierten ein denkwürdiges Geburtstagsfest und noch heute wird in Groß Schönebeck vom „Wilhelms Sonderzug“ erzählt.