70 Jahre Frieden - Gedenken zum Kriegsende in Groß Schönebeck
Kirchengemeinde und Bürgerverein Groß Schönebeck erinnerten am 29. April 2015 mit einer Gedenkstunde am Gedenkort für die von der SS am letzten Kriegstag ermordete Familie Wagner (näheres dazu siehe unter http://www.grossschoenebeck.de/umgebung/geschichte/98-mord-im-pfarrhaus.html) vor dem Pfarrhaus in der Schloßstraße an das Kriegsende in Groß Schönebeck.
Dazu sprachen Gemeindepfarrer Stephan Flade und Bürgervereinssprecher Rainer E. Klemke. Anschließend wurden am Gedenkstein und am Ehrengrab der Familie Wagner auf dem Friedhof Blumen niedergelegt.
Die Ansprachen sind hier nachzulesen:
Pfarrer Stephan Flade widmete sich dabei der Ermordung der Familie Wagner
Sieben Morde vor 70 Jahren
Ich stelle mir es so vor: Am Sonntag Kantate fand ein letzter Gottesdienst vor dem Einzug der russischen Truppen statt. Der Geschützdonner der nahenden Front war nahe. Angst und Panik vor dem Kommenden. Pfarrer Theodor Wagner sen. predigte tröstend und alltagstauglich das Wort Gottes.
Die Groß Schönebecker waren auf dem Weg in die nahen Wälder, die Frauen mit den Kindern – denn die Männer waren an der Front, in Gefangenschaft oder bereits tot, „gefallen für Führer und Reich“, für den Gröfaz, den größten Führer aller Zeiten.
Im Pfarrhaus wurde entschieden, den Ort auch zu verlassen. Die drei kleinen Enkelsöhne wurden angezogen. Die Schwiegertochter packte mit der Pfarrfrau das Nötigste für die Flucht. Die beiden Männer, beide Pfarrer, der eine von Groß Schönebeck und sein Sohn von Zerpenschleuse, trugen wenige Habseligkeiten. Ohne eigenes Gespann, auf freie Plätze der Bauernwagen angewiesen, stand man lange an der Liebenwalder Straße, der Straße nach Westen. Kein Platz, keine Transportmöglichkeit, traurige bedauernswerte Gesten der Vorüberfahrenden.
Die Kinder wurden müde, quengelten. Wagen um Wagen rettete jeder seine Habseligkeiten. Eine gequälte Kette Trostlosigkeit im aufgewirbeltem Staub. Müde kehrte man ins Pfarrhaus zurück. Sollte doch nun kommen was wolle, Hauptsache unter dem vertrauten bergenden heimischen Dach …
Wir wissen nicht, was weiter geschah …
Einen Tag später stießen die Russen auf den grausigen Fund im roten Ziegelbau. Die beiden Pfarrfamilien waren ausgelöscht worden. Sieben Menschenleben. Nach 70 Jahren gedenken wir wieder der Ermordeten.
Verrohte SS-Leute - in besoffener Verzweiflung und um das nahen Ende des Dritten Reiches wissend – hatten drei Generationen der Pfarrfamilien Wagner ausgelöscht.
Wir wissen heute : Nie wieder Faschismus! Den Toten zur Erinnerung, den Lebenden zur Mahnung steht vor dem Pfarrhaus ein Findling und auf dem Friedhof ein schlichtes weißes Kreuz. Gedenkt – haltet inne! Erinnert euch! Behaltet das im Gedächtnis!
Ich leihe mir Worte von Dietrich Bonhoeffer. Er starb am 09.April 1945 im Alter von 39 Jahren im KZ Flossenbürg / Franken ebenso durch die Hand von SS-Leuten.
In einer Auslegung des 119.Psalms im Jahre 1939 hat er geschrieben:
„Weil Gottes Wort (in gut und böse, d.V.) in der Geschichte und d.h. in der Vergangenheit zu uns gesprochen hat, darum ist die Erinnerung, die Wiederholung des Gelernten (des Erfahrenen, d.V.) täglich nötige Übung. … Vergiss nicht, so warnt die die Schrift immer wieder aufs ernsteste vor dem Vergessen! …Erinnerung wird zur Kraft der Gegenwart …“
Wir wollen und müssen uns erinnern an das brutale Ende des mörderischen 2. Weltkrieges. Er ist für uns Deutsche – Gott lob – die letzte brutale Kriegserfahrung gewesen ist. Seit dem haben wir Frieden, brüchigen Frieden, aber eben keinen kalten oder heißen Krieg mehr.
Dafür dürfen wir dankbar sein. Dafür dürfen wir Gott dankbar sein, dass es kluge und entschlossene Frauen und Männer gab, die aus der blutigen Geschichte lernen wollten und gelernt haben.
Dieser Frieden ist ein Geschenk. Wir durften seitdem das Volksvermögen für Bildung, Schule und soziale Aufgaben ausgeben. Waffen, Rüstung dienten der Sicherung des zarten Friedens. Leider wurden unsere Vernichtungswaffen exportiert und überschwemmen die Welt. Auch deshalb geht es uns so gut und anderen in der 2/3 Welt gleichzeitig so bitter schlecht.
Gott schenke uns klare Sinne für die Gerechtigkeit auf Erden, gegen die Willkür der Ausbeutung und Vertreibung, gegen die Macht der Kriege und Selbstzerstörung der Menschheit.
Das bleibt der Lernstoff aus der mörderischen Bluttat im Pfarrhaus in Groß Schönebeck.
Rainer E. Klemke schlug den Bogen zu Kriegen und Flucht heute:
70. Jahrestag des Kriegsendes in Groß Schönebeck
Es war am Morgen des 29. April 1945. Während die Familie Wagner in ihrem Blut im Pfarrhaus liegt, ist Groß Schönebeck wie ausgestorben. Die Sonne scheint auf die Frühlingsblüte der Obstbäume, Hühner gackern und ein durstiges Rind verlangt, getränkt zu werden. Kein deutscher Soldat war mehr zu sehen. Die Panzersperren blieben, wie Helmut Suter schreibt, unbesetzt und nur das Donnern der Geschütze in der Ferne kündigt wie ein herannahendes Gewitter das Ende des Dritten Reiches für Groß Schönebeck an.
Gegen 16 Uhr erreichen die ersten Panzer der der 1. Weißrussischen Front unter Marschall Georgi Schukow auf der alten Joachimsthaler Straße das Dorf. Groß Schönebeck lag wie ausgestorben da. Es gibt verschiedene Überlieferungen, wer aus Groß Schönebeck den Sowjets mit einem weißen Bettlaken entgegen gezogen ist, um die kampflose Übergabe des Dorfes zu verhandeln. Dadurch wurde ein friedliche Übergang möglich und weiteres Blutvergießen erspart.
Viele waren zuvor wie der damals sechsjährige Herbert Hunziger mit ihrer Familie mit den am 26. April abgezogenen deutschen Soldaten von Hermann Görings Carin Hall – Besatzung nach Nordwesten geflohen, das kleine Gepäck auf einem Hundewagen verstaut. Edeltraut Tönnies, deren Familie seit 1890 das Dampfsägewerk am Berliner Ortsausgang betrieben hatte, machte sich mit zwei Fuhrwerken, auf denen ihr ganzer Hausstand verteilt war und weiteren Flüchtlingen auf zur Elbe, wo sie auf einem Bauernhof Unterschlupf fanden. Hildegard Aschermann und ihre Schwestern Gertrud und Erna waren nach Schluft geflohen. Zuvor hatten sie ihr Vieh geschlachtet und mit dem Geschirr vergraben, um es vor dem Zugriff der Russen zu schützen. Fritz Ast hatte sich mit seiner Familie in den Wald am Schinderberggestell geflüchtet. Christa Staberow flüchtete auch mit Mutter und Onkel aus Schluft wie viele andere Groß Schönebecker in den Wald, nachdem sie ihr Vieh geschlachtet und alle Wertsachen vergraben hatten. Dort stellten sie ihre Fahrräder und Koffer ab. Im Entwässerungsgraben hatten sie einen provisorischen Bunker gebaut, in dem sie wie andere Schlufter einige Tage hausten. Christa Staberow wollte aber wieder zurück ins Dorf und sagte: „Mutter, die Russen sind ja auch Menschen“. Sie ging zurück ins Dorf, wo die Uhren und Plattenspieler weg und das Haus voller Russen war.
Was folgte, war kein Zuckerschlecken: Eine Entnazifizierung, bei der so manche alte Rechnung beglichen wurde, Hungerjahre und ein kräftezehrender Wiederaufbau des Gemeinwesens. Viele Geflohene kehrten nicht zurück, viele Flüchtlinge und Vertriebene mussten aufgenommen und versorgt werden. Die politische Umwertung aller Ordnungen und die spätere Kollektivierung forderten Opfer und verursachten weitere Abwanderungen und neue Fluchten.
Was aber erhalten blieb trotz „Kaltem Krieg“ zwischen Ost und West im Schatten der Atombombe, war seither 70 Jahren Frieden. Die längste Friedensphase in der Geschichte Mitteleuropas. Dazu dann noch dank Friedlicher Revolution und Mauerfall das Geschenk der Wiedervereinigung Deutschlands, die wir in diesem Jahr zum 25. Mal feiern können.
Deutschland Ost und Deutschland West wurden wieder aufgebaut. Daran hatten die 14 Millionen Vertriebene großen Anteil. Sie wurden in dem kriegszerstörten und demontierten Land, das unter Hunger und Wohnungsnot litt, zusätzlich aufgenommen. Sie waren damals alles andere als willkommen. Insbesondere im ländlichen Bereichen wurden sie als „Polacken“ oder als „Zigeuner“ beschimpft. Es gab die Redensart, die drei größten Plagen seien die „Wildschweine, Kartoffelkäfer und die Flüchtlinge“ gewesen. Ganze Dörfer verweigerten die Aufnahme der Flüchtlinge in die Gemeinschaft, in Kirchen, Ortsräte, ins Vereinswesen. Vertriebene trafen überall auf noch latente Vorurteile aus der NS-Zeit über östliche Landschaften und Mentalitäten.
Die Vertriebenen damals hatten schlimme Erfahrungen gemacht, die sie bis in ihre Nachkommen hinein traumatisierten. Gewalt, Verlust der Heimat und von Familienangehörigen, die Entbehrungen und Gefahren auf der Flucht. Schlimme Erfahrungen, die sie mit den Flüchtlingen von heute teilen, die vor Kriegen, Terror, Verfolgung und Not in unseren Tagen unter schlimmsten Entbehrungen und wie z.B. bei den Bootsflüchtlingen unter Lebensgefahr aus ihrer Heimat fliehen, um zu überleben und ihren Kindern eine Zukunft zu schaffen.
Weltweit sind laut UNO mit über 55 Millionen Menschen so viele auf der Flucht wie nie zuvor. Während arme und kleine Staaten am Rande der Krisengebiete wie der Libanon oder Jordanien Millionen Flüchtlinge aufnehmen und versorgen, tut sich die Europäische Union mit ihren 507 Millionen Einwohnern schwer, 200.000 Syrer aufzunehmen. Europa schaut zu, wie Tausende Menschen im Mittelmeer auf der Flucht ertrinken und richtet neue Zäune und Mauern rund um die EU auf.
Wir schauen zu, wie Hunderttausende Massakern zum Opfer fallen wie vor genau 100 Jahren das Deutsche Reich im 1. Weltkrieg, als der Verbündete Türkei 1, 6 Millionen Armenier abschlachtete bzw. in der Wüste verhungern ließ.
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Heute geht es für uns darum, nicht wie nach 1945 14 Millionen in Deutschland aufzunehmen, sondern einige Hunderttausend.
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Heute ist Deutschland nicht wie damals am Boden zerstört, sondern eines der reichsten Länder der Welt, auch wenn es innerhalb unseres Landes auch viele Probleme und auch individuelle Not gibt.
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Heute haben wir keinen Überschuss an Berufstätigen, sondern eine Bevölkerungspyramide, die die Renten und die Versorgung der Deutschen bedroht, wenn wir nicht jedes Jahr mindestens 500.000 Zuwanderer aufnehmen.
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Heute geht es darum, Menschen Zuflucht zu gewähren, die mit dem Tode bedroht sind, damit es ihnen nicht so ergeht wie seinerzeit deutschen Juden, die NS-Deutschland nicht verlassen konnten, weil andere Staaten sie nicht aufnehmen wollten und die deshalb in den faschistischen Konzentrationslagern den Tod fanden. Aus dieser Erfahrung und Verantwortung heraus haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes ein Asylrecht geschaffen, das ein hohes Gut ist.
Wir alle sind aufgerufen, das Unsere zu tun, um Menschen in Not zu helfen, ihr Leben zu retten und sich eine neue Existenz aufzubauen.
Wie 1945 bei der Aufnahme der damals Vertriebenen gilt es, Vorbehalte zu überwinden, mögliche Ängste abzubauen. Die Älteren von uns haben am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet Krieg, Flucht und Not zu durchleben. Sie wissen, was es bedeutet, bei Null neu anzufangen in der Sorge um die Zukunft der Kinder.
Mit den Flüchtlingen aus Syrien und Tschetschenien, die wir bei uns im Dorf aufgenommen haben, können wir etwas von dem zurückgeben, was wir an Sicherheit und Wohlstand gewonnen haben. Aus der Erfahrung unserer Geschichte können wir den Menschen, die bei uns Zuflucht suchen, die Hand reichen und sie in unsere Gemeinschaft aufnehmen. Sie sind ein Gewinn für uns, nicht nur bei der Sicherung unserer Kitaplätze, unserer Schule, unserer Versorgung und Pflege sowie unserer Renten. Wie wir in der Erfahrung aus unserem Willkommensteam des Bürgervereins sehen, stärkt die Aufnahme der Flüchtlinge auch den Kontakt und die Gemeinschaftserfahrung in unserem Dorf. Die Geschichte unseres Dorfes ist auch eine Geschichte der stetigen Zuwanderung, Sie hat uns genutzt und bereichert. Lassen Sie uns in diesem Sinne gemeinsam an der Zukunft von Groß Schönebeck weiterarbeiten.