Groß Schönebeck als Wiege der Lehrerausbildung
„Vom Rande der Großstadt Berlin
wird die Heidekrautbahn ihre Wagen zieh’n
an das Ende der Welt.
Zerpenschleuse! Der Zug hält.
Noch sieben Kilometer! Da bleibt Dir die Spucke weg!
Nun sind wir in Groß Schönebeck.
Ein alter Wehrturm von Bäumen umstanden,
Wälder das Dörflein umranden.
Ein Schulhaus mit Tradition.
Siehst Du, da finden wir schon
den Lehrgang für Schulamtsbewerber.“
So beginnt ein Gedicht, in dem die Schulamtsbewerber ihre Ausbildung in Groß Schönebeck am 30.Oktober 1947 zum Abschlussfest beschreiben. Ort der Ausbildung war das Lager des ehemaligen Reichsarbeitsdienstes an der Kastanienallee beim Schönebecker Sportplatz. Hier leisteten während der NS-Zeit zunächst junge Männer ihre Dienstzeit ab und wurden u.a. zur Anlegung von Entwässerungsgräben in dem Schorfheidedorf eingesetzt. Auch der spätere Bundespräsident Richard von Weizsäcker war in der Gemeinde im Arbeitsdiensteinsatz, und zwar im Lager am Werbellinsee. In Groß Schönebeck waren später so genannte „Arbeitsmaiden“ im Lager, die als Ersatz für die in den Krieg eingezogenen Männer in den Familien, Bauernhöfen und Geschäften eingesetzt wurden – und von denen die eine oder andere hier auch den Mann ihres Lebens fanden und eine Familie gründeten.
Lehrgangsleiter der Lehrerausbildung war Erich Triloff, ein Sozialdemokrat und Reformpädagoge, der ab 1926 an der Schule im Ort gearbeitet hat und 1933 nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten sofort aus dem Schuldienst an der Schule in Groß Schönebeck entlassen wurde. 1945 kam er hierher zurück und übernahm die Leitung der Schule, deren Unterricht von Christa Staberow und anderen auf Weisung des sowjetischen Kommandanten im Juni 1945 aufgenommen worden war. Angesichts des großen Lehrermangels durch Kriegsverluste, Kriegsgefangenschaft und NS-Belastung mussten neue Wege beschritten werden, um möglichst schnell die Kinder und Jugendlichen beschulen zu können. So richtete Triloff zunächst in Bernau und dann in Groß Schönebeck einen 10-monatigen Schnellkurs für Abiturienten ein, die ein Grundwissen vermittelt bekamen, das sie später durch Abendschule und Aufbaustudien vertiefen mussten. Unter den ersten Auszubildenden war Paul Hirsekorn, der zunächst bei seinem Vater Bäcker gelernt hatte und später bis 1991 in Groß Schönebeck als Lehrer arbeitete. Günter Möbius, der im bitterkalten Januar 1947 mit 120 weiteren Bewerbern in die Reichsarbeitsdienstbaracken einzog, war wie Hirsekorn beeindruckt von dem Bibelvers, der den Eingang des eingezäunten Geländes auf einer massiven Holztafel zierte: „Ziehe Deine Schuhe aus, denn die Stätte, da Du stehst, ist heiliger Boden.“ Triloff, ein christlich geprägter und gläubiger Mensch, wollte, so Möbius in der GEW-Lehrerzeitung, in der er die Anfänge der Lehrerausbildung in Brandenburg beschreibt, „beileibe keinen Kurs für Prediger des christlichen Glaubens machen. Vielmehr ging es dem während der Nazizeit gemaßregelten und insofern um so konsequenter handelnden Demokraten darum, uns – die zukünftigen Lehrer – davon und dafür zu überzeugen, dass die Pädagogik „heiliger“ Boden sei, auf dem niemals mehr mit großen Stiefeln herumgetrampelt werden dürfe.“ Diese Haltung hatte Triloff mit allem Nachdruck auch gegenüber den sozialistischen Zentralisten verfochten, die die politischen Geschicke nun in diesem Teil Deutschlands zu übernehmen begannen. Als Konsequenz aus dem, was er in der NS-Zeit erlebt hatte, postulierte er: „Keine Demokratie für die Feinde der Demokratie! Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit!“ Damit meinte er aber nicht politisch Andersdenkende, sondern wirkliche Feinde einer demokratischen Rechtsordnung.
Reichsarbeitsdienstlager in Groß Schönebeck
Neben den Schwierigkeiten, sich in so kurzer Zeit ein Rüstzeug für den Lehrerberuf zu erarbeiten und aus den politisch-ideologischen Prägungen aus der NS-Zeit befreit zu werden, hatten die angehenden Junglehrer mit den Sorgen zu kämpfen, die allgemein den Alltag der Menschen in diesen Jahren kennzeichnete: Die Verpflegung erfolgte über Zuteilungen aus den Lebensmittelkarten. Die Tagesration, so berichtet Möbius, bestand aus 200 g Brot, 20 g Fett, 50 g Fleisch oder Wurst (ersatzweise Magerquark), 40 g Zucker oder Marmelade/Kunsthonig, wovon ein entsprechender Anteil an die selbstverwaltete und selbstbetriebene Lagerküche abzugeben war. Deren Hauptgerichte waren Eifo-Suppen (aus Rückständen von gepresstem Mohn mit „garantierten 7 % Fettanteilen“ hergestellt) sowie Suppen und Beilagen aus Brennnesseln oder Melde, die mit etwas Mehl sämig (ein zu dieser Zeit gängiger Begriff für „angedickt“) gemacht wurden.
Möbius war als geheim gewählter Sprecher des Lehrgangs ein begnadetes Organisationsgenie (was ihm seine Kameraden und Wähler noch heute danken). Beim Landrat wusste er Sonderkontingente an Kartoffeln, Grobgemüse und Mehl aufzutreiben. Daneben wurde auch einiges auf den umliegenden Feldern „gefunden“. Viele Bauern wussten dass, sahen aber über den „Mundraub“ wohlwollend hinweg. Holz konnten sie vom Förster Röcker erhalten, um die eiskalten Baracken zu heizen, allerdings mussten sie dafür eine Woche lang bei der Försterei Wildfang Bäume fällen, entasten, zersägen und stapeln. So konnten sie auch thematisch korrekt neben ihrem „Bergfest“ einen „Holzfällerball“ veranstalten, für den sie von Landrat Kracht und dem Verantwortlichen für Handel und Versorgung, Herrn Oehme eine Sonderzuteilung Naturalien für die Herstellung eines Kartoffelsalates und vor allem auch geistiger Nahrung in Form von Spirituosen für ihre Feste erhielten. Die Förderer brachten diese Wohltaten nicht nur persönlich mit einem PKW-Anhänger nach Groß Schönebeck, sondern waren auch frohgelaunte Gäste dieser Veranstaltungen.
Mit den Groß Schönebeckern veranstalteten die Seminaristen auch ein Sport- und Volksfest und traten (erfolglos) gegen die starke Feldhandballmannschaft des Dorfes an, die von Horst Stark aufgebaut worden war und nicht nur gegen die Seminaristen, sondern auch in der Kreisklasse eine gute Figur machte.
Triloff hatte sowohl in seiner Arbeit als Ausbilder eine sehr präzise Vorstellung, was er vermitteln wollte, er führte auch „seine“ Schule äußerst streng. Christa Staberow, selbst eine praktizierende Christin, hatte eine Aufführung mit Elfen und Wichteln für das Weihnachtsfest vorbereitet, um möglichst allen Schülerinnen und Schülern die Gelegenheit eines Auftrittes zu verschaffen. Die Mütter hatten aus dem Wenigen, was ihnen damals zu Gebote stand, schon Kostüme genäht und die Kinder ihre Rolle gelernt, als Triloff anordnete, dass ein Krippenspiel aufzuführen sei. Die Mutter von Horst Stark, Vorsitzende des Frauenbundes, setzte sich aber dafür ein, dass die Aufführung, in die man nun schon so viel investiert hatte, doch gezeigt werden solle und wenn schon nicht in der Schule, dann doch im Saal des Gasthofes Zeumer. Das konnte Triloff nun gar nicht hinnehmen und untersagte die Aufführung. Im Ergebnis dieses Konflikts wurde Christa Staberow nach Rüdersdorf versetzt, wo sie von den Lehrern aus verschiedenen Schulstufen für ihre spätere Praxis in Groß Schönebeck viel lernen konnte.
Seminaristen vor der Lehrgangsbaracke (1. Reihe ganz rechts, der spätere Musiklehrer Scholtyssek, 3. von rechts Hermine Janisch, 3. von links Eleonore Bethge
An der Schönebecker Schule wurden Unterrichtsreformen erprobt, die sehr viel später die Schulreform in ganz Deutschland bestimmen sollten. So die „Ganzwortmethode“, bei der die Erstklässler die Worte nicht aus den einzelnen Buchstaben aufbauen lernen. Dies wurde von der späteren Schulleiterin Kolakowski erstmals praktiziert. Triloff rückte auch von dem bislang üblichen „Frontalunterricht“ ab und ließ die Tische zu Lerngruppenwürfeln zusammenstellen, an denen sich die Schüler gegenübersaßen und untereinander arbeiten konnten, wenngleich einige davon immer mit dem Rücken zur Tafel saßen. In diesem Zusammenhang ließ er durch seinen allseits beliebten späteren Nachfolger in der Schulleitung, Günter Siebert, der als elternloser Schulfreund von Paul Hirsekorn mit diesem zusammen den Lehrgang in Bernau absolviert und 1946 als 18-jähriger Junglehrer nach Groß Schönebeck zurückgekommen war.
Lehrerkollegium 1953: v.l.: 1. Reihe: Frau Regling, Frau Holstein, Frau Siebert, Herr Schadeck, v.l. 2. Reihe: Herr Holstein, Herr Höhnow, Herr Siebert, Herr Peter, Herr Hirsekorn, Herr Wolfram
zurückgekommen war, die sogenannte „Arbeitsschule“ einführen, bei der die Schüler den Stoff selbst erarbeiten und die Lehrer nur regulierend eingreifen. Nach einer Hospitation der Schuloberen, bei der Sieberts „Starschüler“ Jürgen Bohm einen glänzende Vorstellung hinlegte, war für die Seminaristen klar „von Siebert könnt ihr was lernen“. 1967 wurde Siebert Direktor der Schule, 1981 Studienrat.
Die Lehrgangsteilnehmer wurden im Dorf selbst einquartiert. So wohnten in Zeumers Gasthof drei Männer und zwei Frauen in zwei Gästezimmern unter dem Dach. Darunter war auch Eleonore Bethge, die von der Gastwirtin gebeten wurde: „Frau Lore, können Sie sich nicht um meinen Neffen kümmern?“ und hoffte damit ihren kriegsbeschädigt zurückgekehrten Schützling Herbert Regling aufheitern und vielleicht auch unter die Haube bringen zu können. Nach einigen Kinobesuchen bei Braune kam man sich dann auch näher und als Lore auch noch von Triloff, der sie schon als Chorleiterin an der Dorfschule einsetzt hatte, vor Ort eine Stelle angeboten bekam, heiratete sie ihren Herbert und führte – neben Ihrer Arbeit an der Schule bis 1974 - den Gasthof Regling. Aber das ist eine andere Geschichte.